Niemand bringt den Wald auf den Teller wie er: Der Schweizer Stefan Wiesner ist der Waldkoch schlechthin.
Warum Flechten das Zeug zum Dessert haben – und Ameisenhaufen die nachhaltigsten Arbeitskollegen sind.

DER ALCHIMIST
des Waldes

Wonach sucht ein Spitzenkoch im Wald? Die meisten würden antworten: nach Kräutern, Pilzen und Wild. Viel mehr lässt sich bekanntlich nicht aus dem Wald in die Küche bringen. Oder? Fest steht: Wer diese Antwort gibt, war noch nie mit Stefan Wiesner unterwegs. Der „Hexer“, wie der Schweizer Haubenkoch aus Escholzmatt im Kanton Luzern genannt wird, kennt den Wald seiner Region wie kein anderer.

Seit fast 40 Jahren erforscht er das geheimnisvolle Dickicht der hölzernen Gefilde – und zeigt in seinem Gasthof Rössli, wie unerschöpflich der Wald in kulinarischer Hinsicht ist. Von Holzspänen über Fichtentriebe bis hin zu Jungfarn und Ameisen – der Wald hält viel mehr für uns bereit, als wir wissen. Was heißt das genau? Und wie geht Wiesner dabei genau vor?

Flechten fürs Eis

Stellt man sich mit Wiesner vor eine Zirbe und fragt ihn, was er daraus alles verarbeiten könnte, dann denkt er ein paar Sekunden nach und sagt mit ruhiger, gesetzter Stimme: „Die Nadeln, die Blüten, die Knospen, die Sprossen, das Splintholz, das Kernholz. Und die Flechten auch, eigentlich.“ Eine Antwort, die natürlich viele neuen Fragen aufwirft. Die spannendste jedoch ist: Was, bitte, lässt sich aus den Flechten machen? Kann man die überhaupt essen? Ist das nicht giftig? „Gar nicht“, sagt Wiesner.  

Überhaupt scheint es, als würde all das, was im kollektiven Bewusstsein der waldigen Alpenländer als „giftig“ gebrandmarkt wurde, für Wiesner das eigentlich Schmackhafteste sein. „Vogelbeeren beispielsweise sind überhaupt nicht giftig. Isst man sie jung, schmecken sie wie Amaretto“, sagt er. Dasselbe gilt für jungen Farn. „Der schmeckt wie Gurke. Und die Wurzeln des sogenannten Tüpfelfarns beispielsweise nenne ich die Lakritze des Waldes, weil sie wirklich wie Lakritze schmeckt.“ 

Aber zurück zu den Flechten. Auch wenn ihr Erscheinungsbild anderes vermuten lässt, handelt es sich ganz und gar nicht um Parasiten. Vielmehr sind sie eine Mischung aus Pilzen und Algen, die dem Baum überhaupt keine Nährstoffe entziehen. Mit routiniertem Fingerspitzengefühl schält Wiesner diese weiß-grauen Algenpilze von den Ästen. „Die kann man für ein Dessert verwenden“, sagt er. Und wie? „Indem man sie zum Beispiel in einer Essig-Zucker-Lösung einkocht und zu Eis serviert“, so Wiesner.

Regio-Revoluzzer

Ein normaler Spaziergang durch den Wald ist mit Stefan Wiesner eigentlich nicht möglich. Alle vier, fünf Meter sieht der Spitzenkoch etwas, das in ihm ein kulinarisches Kopfkino freisetzt. Er bückt sich, nimmt zwei Hände voll Moos vom Boden. „Der eignet sich hervorragend für Fisch!“ Wie bitte? Wiesner erklärt: „Ich schütte etwas Weißwein darüber, lege den Fisch darauf und gare ihn. Das gibt ein unverkennbares, komplex waldiges Aroma!“ Ähnlich ins Schwärmen kommt Wiesner ein paar Meter weiter vor einem Ameisenhaufen.

„Die Ameisen sind langjährige Arbeitskollegen von mir“, schmunzelt er. Für wenige Sekunden legt er seine Handfläche auf den geschäftigen Haufen, riecht daran. „Ameisensäure riecht und schmeckt wie eine Mischung als Balsamico und Limette“, sagt er. „Oft lege ich ein Stofftuch darauf, wende es mehrmals. Dann stecke ich das Tuch in eine Dose, nehme es in die Küche mit und lege beispielsweise Joghurt darin ein.“ Das Joghurt nutzt er dann als Marinade für Fleisch oder Fisch. Auch unterschiedliches Gemüse hat Wiesner auf das Tuch gelegt, um es mit dieser unverkennbaren Säure zu versehen. „Mein Ziel ist es, den Gästen zu zeigen, wie schön, gesund und gut die Natur ist, die uns umgibt“, sagt er. Der vielstrapazierte Begriff der Regionalität: Bei Stefan Wiesner erhält er seine ganze Glaubwürdigkeit zurück. Und wirkt dadurch endlich auch wieder einmal revolutionär.

  • WICHTIG: Bitte keine fremden Früchte einfach kosten oder verkochen. Derartiges nur mit einem Fachmann wie Stefan Wiesner gemeinsam machen, da sonst die Gefahr einer Vergiftung besteht!

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Bildquellen für diesen Beitrag: Pia Grimbuehler Photography
Autor für diesen Beitrag: L. Palm / Jagdfakten.at

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